Wann hat das eigentlich angefangen mit dem Wohnen und der Gemütlichkeit? Wann wurde das Zuhause zu mehr als nur einem Dach über dem Kopf? Seid wann ist es chic und schön, seine Wohnzimmerwand in modischer Wischtechnik zu inszenieren? Oder – zu einer anderen Zeit, zu einem anderen Zeitgeist – in alpinaweißen Raufasertapeten? Wann wurde die Schrankwand zum schichtenübergreifenden Statussymbol? Kurz: Wie und vor allem seit wann hat der Mensch sich überhaupt eingerichtet?
Lange, das sei vorweggenommen, wohnen wir noch nicht. Erst im 14. Jahrhundert hat sich aus der Zunft der Zimmerleute allmählich jene der Möbelschreiner emanzipiert, die fortan vor allem robuste Truhen fertigen sollte. Noch vor dem Tisch, dem Stuhl, dem Bett(-gestell) war die Truhe also das erste Möbel des Menschen. Ein praktisches Ding, das den Habseligkeiten Platz und Schutz bot. So ein gewöhnlicher Mensch des Spätmittelalters hatte ja noch nicht so viel.
Seit dieser Zeit aber leben die Menschen, und nicht mehr nur der höhere Klerus und Adel, mit Möbeln. Und der Mensch bekam langsam ein Gespür dafür, was der Philosoph Martin Heidegger rund 500 Jahre später als die Grundbedingung – und das Grundbedürfnis – der menschlichen Existenz postulieren sollte: ein Zuhause als festen Standpunkt und ja, auch Rückzugsort, von dem aus die Welt betrachtet werden kann und die Dinge verortet werden können. Wohnst du noch oder lebst du schon?, fragt eine schwedische Möbelhauskette. Für Martin Heidegger wäre das eine ohne das andere gar nicht erst denkbar gewesen.
Die Arbeit wird aus der Wohnung ausgesperrt
Mit der einsetzenden Industrialisierung sollte sich im 19. Jahrhundert etwas ganz Entscheidendes verändern. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war für einen relativ großen Teil von ihr der Ort der Arbeit und der Ort des Wohnens nicht mehr derselbe. Man ging in die Fabrik, die Manufaktur, den Hafen, unter Tage oder ins Kontor. Und man kam irgendwann wieder nach Hause. Vor allem aber zog man dorthin, wo diese Arbeit war. Industriestädte und Industrielandschaften entstanden.
Vielleicht kann man – und viele Kultursoziologen tun genau das – sogar so weit gehen, dass mit diesem Moment der räumlichen Trennung von Broterwerb und Brotverzehr das eigentliche Wohnen überhaupt erst beginnt. Also der ästhetische und mehr noch ideengeschichtliche Diskurs ums sogenannte Zuhausesein. »Sich behagen, zufrieden sein« findet sich ganz in diesem Sinne denn auch im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, wenn man den Begriff »Wohnen« nachschlägt. Es geht also nicht bloß um das Dach über dem Kopf – es geht auch um den zugehörigen Habitus, die zugehörige Haltung. »Biedermeier« wird diese Haltung bald darauf genannt. Ursprünglich war das ein Spottbegriff, der jene nun vor allem im Bürgertum um sich greifende Kultur der Häuslichkeit und Betonung des Privaten eigentlich despektierlich zur Schau stellen wollte. Ein ziemlich deutsches Wort kommt auf, das es sogar in der englischen Sprache zu einer gewissen Prominenz bringen wird: »Gemütlichkeit«.
Gemütlich soll das traute Heim also sein. My home is my castle – eine Trutzburg vor den Wirren der Welt. Zwei zentrale Einrichtungsgegenstände kommen im Biedermeier (1815–1848) auf: das sprichwörtliche Biedermeiersofa und die Topf- beziehungsweise Zimmerpflanze. Der Wohnung, also dem Wohnen, wurden nun erstmals Funktionen zugestanden, die nicht mehr im unmittelbaren Sinne funktional waren. Repräsentation, Besinnung, aber eben auch Ge- mütlichkeit sind etwa solche Funktionen. Wenngleich der in den prosperierenden Industriemetropolen knappe Wohnraum nur den bürgerlichen Schichten diesen Platz zum Müßiggang zugesteht.
Gemütlichkeit – Die Demokratie des Wohnens
Überhaupt: Platz. Der Berliner Milieumaler Heinrich Zille porträtiert an der Schwelle zum 20. Jahrhundert das Gegenteil solch bürgerlicher Wohnentwürfe. Die Industrialisierung hat eine neue Topologie der Stadt hervorgebracht: das Arbeiterquartier. Viel Wohnraum auf wenig Raum und dennoch dominiert der Mangel an Platz. Sechs Quadratmeter Wohnraum werden jedem Großstadtbewohner um 1900 im Schnitt zugestanden. Jede Arbeiterfamilie hat, wenn sie denn überhaupt eine eigene Wohnung hat, sogenannte Kostgänger, also Untermieter. Die Betten werden im Schichtbetrieb belegt. Da geht es in diesen Wohnfabriken kaum anders zu als in den Fabriken selbst.
Mehr Wohnen wagen. Als Reaktion auf diese Missstände, die auch zur Verwahrlosung ganzer Stadtquartiere führen, gibt es unterschiedliche politische und vor allem städtebauliche Konzepte. Die Gartenstadt ist eine davon, wie sie am grundsätzlichsten etwa in den Bergarbeitersiedlungen des Ruhrgebiets realisiert worden ist. Aus kleinen Wohnungen werden kleine Häuser. Ihr Mehrwert: viel freier Himmel und frische Luft und vor allem ein Garten, um Gemüse zu pflanzen und Tiere zu halten. Einen anderen Weg gehen die Reformsiedlungen von Werkbund, Bauhaus und geistesverwandten Architekten. Moderne Materialien, zeitgemäße Grundrisse, pragmatische Klarheit: Das Wohnen unterwirft sich der Funktion und wird gerade dadurch, in sauberen, lichtdurchfluteten Wohnungen, erst möglich.
Und dennoch: Die Altbauwohnung – ob bürgerliche Beletage oder backsteinromantisches Arbeiterquartier – gilt heute gerade unter jungen Mensch als begehrteste Adresse. Es war und ist eine städtebauliche Herausforderung, dieses Kapital durch geschickten Um- und Rückbau und zeitgemäße Sanierungen für ihre Bewohner, aber auch für die Stadtgesellschaft nutzbar zu machen.
Denn die Menschen wollen wieder in die Mitte. Die Zentren feiern, als Wohnadresse, eine Renaisssance. Zumal künftig wieder mehr Menschen am selben Ort leben und arbeiten werden. Nicht mehr als Landwirt auf ihrem Hof. Sondern als Kreativarbeiter am weltweiten Glasfasernetz. Wohnen bleibt wichtiger denn je.
Der Beitrag ist zuerst im Schindler Magazin erschienen. Autor: Clemens Niedenthal
Der Beitrag Probier’s mal mit Gemütlichkeit erschien zuerst auf Senkrechtstarter.